schnittlinien
Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr 2014/2015
Katalogtext zur Ausstellung(Auszug)
Dr. Stefan Soltek, Klingspor-Museum, Offenbach am Main

(englisch version below)

 

„Und wunderbar verwandt mit echten Geheimnissen dünkt uns ihre Schrift…“ (nach Novalis, Die Lehrlinge zu Sais). Sinn-Fülle und Wortfolge als Kunstmittel.

Sein und Zeit. Martin Heidegger unterscheidet das Sein vom Seienden. Der Erkenntnis des Menschen setzt er die Betrachtung des Daseins an sich voraus. Das Verstehen der Dinge im Hinblick auf den Sinnzusammenhang, dem sie einander unterliegen. Das Sein der Dinge wird auf seinen Sinn hin befragt.

In die weißen Räume holzgefasster Kastenrahmen sind reihenweise, schier endlos, Nadeln gesteckt. Jede trägt ein so winzig scheinendes Papierzettelchen mit dem Wort SEIN. Ausgeschnitten aus einem Band von Heideggers Sein und Zeit. Sämtliche SEINs des Textes sind, im Buch vorhanden, extrahiert, sind Corinna Krebber zuhanden;  vormals bestimmt vom Kontext, nun neu anberaumt zu einer monoformen Textur. Nadeln stecken als Fragiles, aber auf seine Weise Merkbares die Bedeutung ab. Raum als Apostroph visuell gedehnter Zeit. Das Sein in der Zeit. Die Künstlerin beharrt indes auf der prinzipiellen Befragung des Wortes. Im Sinne von Heideggers Frage: „Doch das Sein – was ist das Sein? Es ist Es selbst. Dies zu erfahren und zu sagen, muss das künftige Denken lernen. Das Sein ist weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl dem Menschen näher als jenes Seiende…Das Sein ist das Nächste. Doch die Nähe bleibt dem Menschen am weitesten“. Mit dieser Grundsätzlichkeit, mit der Unermesslichkeit zwischen Nähe und Weite, nimmt es diese Ansammlung in den Kästen auf.

Corinna Krebber hat sich ein weit gefächertes Spektrum an Werken rundum das Phänomen Schriftlichkeit erarbeitet – besser: des Wortes und des Textes. Immer zu tun haben ihre Annäherungen mit Ausmessung ihres physischen und gedanklichen Expandierens. Jede Begrifflichkeit, aus einem oder mehreren Worten bestehend, verlangt nach Begriffenwerden. Oder, wenn dieser Anspruch zu weitgreift: nach Abtasten.

Unbedingt doppelt verläuft dieser Prozess, er geht vom Abstraktum des Bedeuteten aus wie zudem von der Konkretheit des dem Wort eigenen Komposit aus Buchstaben. Bedenken vollzieht sich parallel zu Beschauen, Anschauen generiert Anschauung, sich vorstellendes Formgut eine Auslegung, die ihre spezifische  Formulierung mit sich bringt. „Gedanken vernichten können; sonst fehlt uns  der Sinn für das Weltall“ (Friedrich Schlegel) – diese im Romantischen beheimatete Idee des Fraktalen, das elementare Anschauung eröffnet, setzt sich in vielen künstlerischen Äußerungen der folgenden Epochen fort. „Denn es gibt eigentlich nichts Fertiges mehr“, ist die entsprechende Bemerkung Albert Schulze-Vellinghausens (Bild und Wort), die er hinterlegt mit der Heisenbergschen Unsicherheitsrelation und der Feststellung in der neuen Physik, daß jede Beobachtung in das Beobachtete eingreift, es an-greift und so verändert, daß es sich nicht ‚an sich‘ zu erkennen gibt“ (Jahresring 63/64, S.121). Auf dieser Linie liegt Krebbers Arbeit an Form und Inhalten.

Die Konsequenzen dieser Verfahrensweise zeitigen methodisch ganz unterschiedliche Prozeduren des Einsetzens von Schrift. Die strenge Abfolge von Versalien. In Papier- oder Putzwände geschnitten oder aus Eisen gefräst. So oder so in den Untergrund eingetieft, gestanzt oder eingelegt. Die ausschneidende Umkurvung, handschriftliche Akzentuierung von einerseits oberer, andererseits unterer Buchstabenhälften mit dem Resultat papierweißer oder klebefolienschwarzer Schriftbänder. Was im ersten Fall zu statuarischer Hyperpräsenz verabredeter Lesweise führt, erweist sich im zweiten Typ Schrift als einschneidende Provokation dieser gängigen Lesemethode zugunsten einer Herausforderung an eine vertiefte Entdeckung von Schrift.

Krebber, von Hause aus Architektin, kapriziert sich auf das Körpergebilde der Letter, zumal wenn aus festem Stoff; kapriziert sich auf das papierflache Membran-Bilden zwischen dem Vor und Dahinter des Schriftgeschnittenen; kapriziert sich auf das Mitbetroffensein des der Schriftform Vor- und Hinterliegenden, das mitschwingt, das Resonanz erzeugt, neben und mit dem Betrachter. Dezidiert Körper oder dezidiert Fläche – die visuelle Ausdehnung als Gebilde in seiner Umgebung und mit dieser in Korrespondenz gilt Krebber als im Wort wirksame Stimulans. So entstehen Erscheinungsweisen des Buchstäblichen im Sinne eines konditionierenden Bemerkens von und eines Aufmerkens für Wort; und sein sich Einbringen in den Ort, an dem es die Künstlerin vorbringt, und in dem es ein Nachsinnen anstiftet. Thomas Bernhard schrieb: „Das Wort leuchtet auf, dadurch bekommt es seine Deutlichkeit oder Überdeutlichkeit. Es ist ein Kunstmittel…Wörter, die langsam zu Vorgängen äußerer und innerer Natur, gerade wegen ihrer Künstlichkeit besonders deutlich zu einer solchen werden“ (2.Tag, in: Absichten und Einsichten. Texte zum Selbstverständnis zeitgenössischer Autoren, Stuttgart (Reclam), 1990, S. 153).

Auch bei ihrer aktuellen Arbeit, die sie eigens für die Ausstellung im Kunstmuseum Mülheim a. d. Ruhr konzipiert hat: eine schier unendliche Zahl von unmittelbar auf die Wand genadelten Worten, Ausdrücken, Satzfragmenten. Worte wie aus einem spirituellen Kontext. „Es ist durchaus nicht von ungefähr, dass der Künstler in dem, was er schafft, eine Spannung zwischen den vom Herkommen gehegten Erwartungen und den neuen Gewohnheiten überwindet, die er mitbestimmend einführt. Die Situation unserer zugespitzten Moderne, wie ja auch die Art des Konflikts und der Spannung zeigt, ist hervorstechend. Sie stellt das Nachdenken vor sein Problem“ (Hans-Georg Gadamar, Die Aktualität des Schönen, Stuttgart (Reclam) 1977/2012, S. 17). Was Hans-Georg Gadamer der Rolle des Künstlers zumisst, entspricht dem Selbstverständnis Corinna Krebbers. Die gefundenen philosophischen, weltanschaulichen Texte liest sie aus, nicht um sie neu zu edieren, nicht um eine neue Lektüre und Leserschaft dieser Texte zu betreiben, sondern um ihrem Sondieren im verbal Dargebotenen Ersichtlichkeit zu schaffen. Sie stellt das Nachdenken vor ihr Problem.

Gerade der Umgang mit Textschrift trägt vermehrt Spannung in sich. Ist Literatur der Bezugspunkt, steht in hohem Maße eine ihr angemessen erscheinende Lesbarkeit zu erwarten. In diese Erwartung bricht das Vorgehen Krebbers ein. Ihr Wörterfeld bedient sich der Texte als Wortbruch, aus dem sie extrahiert, was ihr Verstehenwollen pointiert fordert. Vor die Wand genadelt, entsteht eine offene Textur, deren Bewegung horizontal, auch vertikal sowie – dem Relief gleich – in die Tiefe das Auflesen der Textstellen forciert. Von den Argumentationsketten der verwendeten Texte löst sich ein Strang ihrer Exegese ab, die sich indes die Freiheit nimmt, vom Wortweisen das Sichtbare zu destillieren. „Wir wissen doch, was Lesenkönnen heißt. Lesenkönnen heißt, dass die Buchstaben ins Unmerkliche verschwinden und es der der Sinn der Rede allein ist, der sich aufbaut.“ (Gadamer, S. 77f). Nein, möchten wir Gadamer entgegnen. Lesenkönnen, von der hier verhandelten Verfahrensweise angeboten, heißt, dass die Buchstaben, gerade in ihrer anlockenden Kleinheit, hervortreten, der Sinn der Rede, ob der Verletztheit der Worte, ins Unmerkliche verschwindet und ein selbsterklärendes Substrat sich vor Augen führt. Sinn löst sich auf, Hinter-Sinn hebt sich aus dem linear-Konsequenten als Anti-Wort-Gebilde heraus. „Weiterfragen“ wäre der bessere Begriff.

Krebber läßt uns begreifen, dass Wort und Schrift nicht auf Trägern funktionieren, auf Papier etwa oder Erdboden oder auf einer Wand, sondern dass sie sich konspirativ diesen Träger zu eigen machen wie er sich ihrer bedient, um zu beredtem Sprachraum zu werden. Dieses Verwachsen von Buchstäblichem und seiner physischen Bedingtheit zu einem weit ins Sphärische ausgreifenden Bedeuten begründet sich im Abgleich von Weite und Engführung, offenem Raum und definiertem Ort. Friedrich Schleiermachers Gedanken von der Kunst des Auslegens der Kunst kann wie eine Anleitung dieser Auffassung der Künstlerin verstanden werden. „Denn überall ist Konstruktion eines endlich Bestimmten aus dem unendlichen Unbestimmten. Die Sprache ist ein Unendliches, weil jedes Element auf eine besondere Weise bestimmbar ist durch die übrigen“. So gesehen, werden die ab- und aufgesteckten Worte ansprechbar als endliche Elemente unendlichen Potentials der Sprache, exemplifiziert an den Gedankenorganismen der zu Grunde gelegten, philosophischen Texte. Natürlich spielt neben dem Konzeptuellen dieser Machart das Individuum der Lektorin seine ebenso gewichtige Rolle. Schleiermacher sah diese Verflechtung genau: „Ebenso aber auch die psychologische Seite. Denn jede Anschauung eines Individuellen ist unendlich. Und die Einwirkungen auf den Menschen von außen sind auch ein bis ins unendlich Ferne allmählich Abnehmendes“ (Das Auslegen ist Kunst, Theorie der Romantik, Stuttgart (Reclam) 2000, S.200). Hier etwas nüchterner gefasst, besagt es, dass die bestimmten drei Texte ebenso wie das nur eine Wort Sinn, ebenso wie die Fonds, die andere ihrer Arbeiten grundieren, jeweils nur momenthafte Konkretisierungen eines prinzipiell unbegrenzten Prozesses permanenten Dialogs zwischen wahrnehmender Person und dem von ihr Wahrgenommenen sind.

„Ein tief verhüllt, wundersam Geheimnis ist im Innersten der Welt verborgen“, und gegenüber dem Rätsel der Verständigung steht die Kunst, ihre Infragestellungen zu formulieren – Kunst, die insofern ist, als sie „in der zögernden Weile einiges Haltbare sei“ (Gadamer, S.85).

 

“And her writing appears to us miraculously kindred to real secrets…”  (after Novalis, Die Lehrlinge zu Sais). Fullness of meaning and word order as artistic devices.

In his book Sein und Zeit (Being and Time), German philosopher Martin Heidegger draws a distinction between “being” (sein) and “beings” (das Seiende). For him, contemplation of existence (Dasein) in itself is a prerequisite for comprehending what it is to be human – understanding objects in terms of the correlations and interdependencies in their meaning, and questioning the meaning behind the “being” of objects (das Sein der Dinge).

Row upon endless row of pins pierce the white spaces enclosed by deep wooden frames. Each pin carries the merest slip of paper bearing the word SEIN – all cut from a volume of Heidegger’s Sein und Zeit. From this book Corinna Krebber has extracted – garnered – every single SEIN.  Previously defined by their context, their new setting lends them a uniform texture. Their meaning is now determined by pins – fragile, yet with their own significance. Space becomes a tribute to visually elongated time: sein, being, in the context of time. The artist implacably questions the essence of the word, in the sense of Heidegger’s own question: “Yet being – what is being? It is It itself. The thinking of the future must learn to experience this and to say it … Being is farther than all beings and is yet nearer to the human being than every being … Being is the nearest. Yet the near remains farthest from the human being.” This fundamentality, the immeasurability between near and far, is what the collection in these frames is addressing.

Corinna Krebber has created a very diverse body of work around the phenomenon of the written form – or to be more precise, of word and text. Her interpretations are always connected with the measurement of their physical and notional expansion. Any concept – a single word, or several words – has a meaning that demands to be grasped, or, if this is beyond reach, explored by touch.

This is necessarily a dual process. It begins not only with the abstract idea of what is meant but also with the unique, concrete composition of the word from letters. Intellectual contemplation proceeds alongside physical contemplation; by viewing we develop a view; the form we see suggests an interpretation with its own specific formula. “To be able to destroy thoughts; otherwise we lack a sense of the universe” (Friedrich Schlegel) – the Romantics’ idea of the fractal revealing a view of the essential recurs in many artistic statements in the following epochs. “For really there is no longer anything that is complete” is how Albert Schulze-Vellinghausen (Bild und Wort) expressed this, referring to the Heisenberg principle of uncertainty and modern physics’ realisation that every observation affects the observed, engages with it and thus changes it so that it is no longer reveals itself “in itself” (Jahresring 63/64, p. 121). Krebber’s work on form and content stands in direct relation to this.

The consequences of this procedure are methodologically diverse approaches to using the written word. Capital letters in strict sequence. Cut into paper or plastered walls, or out of iron. Embedded, punched or inlaid in the underlying surface. The cut edge of a curve, the handwritten accents of upper halves and lower halves of letters resulting in letter bands that are paper-white or masking-tape black. In the first case this leads to the statuary hyper-presence of a pre-agreed way of reading; in the second, the written word emerges as an incisive provocation to this habitual reading method, challenging the reader to discover the written word in a deeper sense.

Krebber, whose background is in architecture, devotes herself to the shape of the letters, especially when formed from solid material; to the way the flat paper forms a membrane between the sheets that precede and succeed the cut-out text; to how the elements before and behind the written form are also affected, resonating in themselves and with the observer. Resolutely corporeal, or resolutely flat – for Krebber, the wider visual dimension as an entity both in its context and in correspondence with its context is a stimulant contained in the word itself. The literal – the letter-based – thus assumes forms that engender awareness of and attention to words as such, and also how words have their own effect in the setting where the artist presents them, where they induce reflection. As Thomas Bernhard wrote, “The word lights up, and thereby becomes distinct, or hyper-distinct. It is an artistic device … Words which slowly develop into processes of an external and internal nature, especially distinct due specifically to their artifice.” (Absichten und Einsichten. Texte zum Selbstverständnis zeitgenössischer Autoren, Stuttgart (Reclam), 1990, p. 153)

In her current work, too, which she has created specifically for the exhibition at the Kunstmuseum Mülheim, there is a simply endless number of words, expressions, fragments pinned directly to the wall. Words which seem to be drawn from a spiritual context: “It is no mere coincidence that the artist in his work overcomes the tension between the expectations nourished by the past and the new habits whose establishment he is influencing. The situation in our acute state of Modernity is striking, as indeed the nature of the conflict and the tension shows. It places reflection before the problem.” (Hans-Georg Gadamar, Die Aktualität des Schönen, Stuttgart (Reclam) 1977/2012, p. 17). The role attributed here to the artist by Hans-Georg Gadamar matches Corinne Krebber’s own self-image. She selects, reads, filters these ideological texts not to re-edit them, or to pursue a new reading or readership of them, but to create visibility for their/her explorations of the verbal offering. She places reflection before her problem.

Dealing with a body of text is particularly charged with tension. If it is drawn from literature, there will be high expectations regarding an appropriate degree of readability. Krebber’s modus operandi demolishes such expectations. In her domain, she mines the texts as a collection of loose words from which she extracts whatever her desire to understand compels her to take. Pinned onto a wall, they acquire an open texture with its own dynamic, forcing the reader to gather the pieces of text horizontally, vertically and even from relief-like depths. Among the lines of argument in the chosen texts, one strand of their exegesis separates off, taking the liberty of filtering the visible out of the collected words. “We know what being able to read means. Being able to read means that the letters become imperceptible and it is only the meaning of what is said that takes shape.”  (Gadamer, p. 77f). No, we would like to retort. Being able to read, in the method here propounded, means that the letters stand out, especially alluring through their diminutive size; the meaning of what is said becomes imperceptible in the light of the vulnerability of the words, and a self-explanatory substratum reveals itself. Meaning dissolves, sub-meaning grows out of the linear imperatives as an anti-word entity. “Keep asking questions” would be a more fitting concept.

Krebber allows us to grasp that words and writing do not function by being transported on a medium such as paper, or on the ground or a wall, but that they conspire to appropriate this medium for themselves, in the same way as it draws on them, to evolve into an eloquent linguistic space. This conjoining of the literal (the letters) and its physical determinants into a meaning stretching far into the cosmic sphere is rooted in the comparison of expanse and narrowness, open space and a defined place. Friedrich Schleiermacher’s thoughts on the art of interpreting art can serve as a guide to interpreting the artist in this way: “For everywhere there is construction of the finite and defined from the infinite and undefined. Language is infinite, because each element is definable in a particular way through all the other elements.” Seen in this way, it is possible to address the words pinned down here as finite elements of the infinite potential of language, exemplified by the organisms of thought in the philosophical texts that provide the foundation. Naturally, the individual character of the lector plays its own weighty role alongside the conceptual nature of this way of working. Schleiermacher observed this interdependence very precisely: “But there is also the psychological aspect. For every observation by an individual is infinite. And the external influences on individuals are also something that gradually diminishes into an infinite distance.” (Das Auslegen ist Kunst, Theorie der Romantik, Stuttgart (Reclam) 2000, p. 200). To put it more soberly, this says that the three texts in question, and the single word Sinn (“meaning”), just like the foundations that underlie other works of hers, are each only momentary concretisations of an essentially unlimited process of permanent dialogue between the observer and what is observed.

“A veiled, miraculous secret is hidden in the very core of the world,” and juxtaposed with the mystery of comprehension is the art of finding the words to question it – art which exists only when it “confirms that there something durable in the lingering span of time” (Gadamer, S.85).