Interview mit
Dr. Jens Heisterkamp

 

Anfänge

Hast du dich auf unser Gespräch vorbereitet?
Ja, das kam mir tatsächlich direkt in den Sinn, aber dann dachte ich mir, warum soll eigentlich so ein Gespräch etwas anderes sein als ein künstlerischer Prozess, auf den ich mich ja auch einlasse in der Hoffnung, dass mir etwas noch bislang Unbekanntes entgegenkommt? Sich für so ein Gespräch speziell etwas vorzunehmen, das wäre so, als würde ich mit jemandem reden, ihm dann aber gar nicht zuhören, weil ich nur im Kopf habe, was ich ohnehin schon sagen will.

 

Wir kennen wohl alle diese Sehnsucht, sich einfach einem Prozess zu überlassen, ohne vorher zu wissen, was einen genau erwartet.
Das ist eine Sehnsucht, der auf der anderen Seite ja auch die Angst gegenübersteht, die Zügel aus der Hand zu geben und die Kontrolle zu verlieren…

 

Im Text von Heidegger, den du deiner Arbeit voranstellst, ist davon die Rede, dass alles Denken auf ein Gedächtnis Bezug nimmt – das scheint der Offenheit eines solchen Prozesses zu widersprechen und klingt eher danach, als würde alles schon immer im Voraus bestehen. Wie verstehst du diese Aussage?
Ich verstehe sie weniger vom Inhaltlichen her, ich sehe da eher dieses Kontrapunktische bei Heidegger. Es werden innere Zusammenhänge gebildet, die keiner bloßen Logik folgen. Wenn man davon spricht, dass sich alles auf das Gedächtnis bezieht, und wenn wir es auf der anderen Seite mit einem völlig offenen Denkraum zu tun haben, dann ist das etwas in sich Widersinniges. Aber im Nachvollziehen dessen, was Heidegger sagt, kommt man in eine eigene Denk-Bewegung hinein. Ich lese seine Texte oft unter einer Art musikalischem Aspekt, so, dass ich den inneren Strukturprinzipien, dem Duktus der Worte lausche, folge und mich bei den Denkbewegungen daraufhin beobachte. Ich finde Texte von Heidegger oft rätselhaft, sie lösen dann bei mir Neugier aus und insbesondere eine Hinwendung, und sie lösen aus, dass ich beweglich werde. Heideggers Bezug zu „Mnemosyne“  hat sofort bei mir eingeschlagen, das hat einen Ton in mir erzeugt, auf den ich reagiert habe. Und indem du dich darauf einlässt, wird dir nach und nach erst die ganze Tragweite dieser Beziehung klar.

 

Gedanken

Einen Philosophen wie Heidegger empfinden viele eher als rationalistisch. Wie bist du als Künstlerin zu Heidegger gekommen?
Nein, rationalistisch finde ich ihn gar nicht. Als ich zum ersten Mal über einen Text von Heidegger gestolpert bin, war da sofort diese Irritation, zwischen Anziehung und Abstoßung zu stehen, ich habe rational sehr wenig verstanden, wusste aber sofort, dass diese Art zu philosophieren mich auf einer bislang wenig bekannten Ebene anspricht. Mit dem Thema „Wort“ beschäftige ich mich ja in meiner künstlerischen Arbeit schon lange, und diese Beschäftigung hat sich mehr und mehr konkretisiert in der Einsicht, dass es mir gar nicht um das Wort als solches geht, sondern um das dahinterstehende Denken. Denken ist etwas, das mich vollkommen fasziniert. In der Rätselhaftigkeit seines Auftretens in uns, aber auch in der Rätselhaftigkeit dessen, wie es sich in Worte kleidet. Ich habe übrigens einmal eine Video-Arbeit zu diesem Thema gemacht, in der ich beobachtet habe, wie sich das Denken im Antlitz von verschiedenen Menschen spiegelt.

Heideggers Art, sich mit dem Denken auseinanderzusetzen, fand ich sehr neu, sehr nah an der Poesie. Kein anderer Philosoph hat mich für meine Arbeit so anhaltend inspiriert wie Heidegger.

 

„Nicht wir haben die Sprache, sondern die Sprache hat uns“, ist ein Gedanke von Heidegger.* Sprache ist uns demnach gegeben, wir sprechen immer schon aus der Sprache heraus, Sprache kann nicht von sprachlosen Subjekten konstruiert sein. Und das ist beim Denken ähnlich – wir kommen immer schon aus dem Denken, wir können es nicht hintergehen. Hat das mit Heideggers Idee von Gedächtnis zu tun – „die Versammlung auf das, was immer schon im Voraus bedacht sein möchte“?
Darüber muss ich nachdenken.

 

Du weißt noch nicht, was du sagen willst, aber eigentlich weißt du es irgendwo doch schon, ahnst eine Richtung.
Ich kann einfach losdenken und dann auch drauflossprechen und dabei oftmals meinen Worten vertrauen… Du gehst, und dabei schiebt sich dir etwas in den Blick, das ergreifst du. Und der Gedankengang zeigt sich als Ganzes erst im Rückblick.

 

Vermutlich verhält es sich bei deinen Arbeiten ähnlich – auch da gibt es keinen fertigen Plan am Anfang.
Meine Arbeiten haben eigentlich zwei Leben: Das eine Leben ist der Prozess im Atelier; das, was ich mit der Arbeit mache, bis ich sie in die Öffentlichkeit übergeben kann. Dann beginnt das zweite Leben, wo sie in einen bestimmten Kontext gestellt wird, den ich nicht vorwegnehmen kann. Das erste führt vom Denken in die Form, das zweite von der Form – also ganz zentral von der Sprache oder der Schrift – wieder ins Denken. Beide Teile sind gleich wichtig.

 

Du hast einen Text, dem Du folgst, und auch die Arbeit des Ausschneidens lässt nur wenige Abweichungen zu. Gibt es da dennoch einen Spielraum für einen künstlerischen Prozess?
Für mich ist es beim Schneiden wie so häufig im Leben so: Wenn man sich einem Detail zuwendet, stellt man fest, dass die ganze Welt in diesem Detail steckt und sich auf kleinstem Raum die Phänomene des ganzen Lebens zeigen. Es ist bei jeder Arbeit etwas Neues für mich darin zu entdecken. Etwas, was ich im Voraus nicht abschätzen kann, auf das ich mich aber sicher einlassen will. Und das ermöglicht es mir, diese manchmal auch mühsame Arbeit des Schneidens durchzuhalten, denn bei jeder Arbeit gibt es auch einen Moment, in dem ich mich frage, was ich da eigentlich mache.

 

Techniken

Kannst du beschreiben, wie das im Detail aussieht?
Ja, jede Arbeit braucht beispielsweise ein anderes Papier, eine andere Art zu schneiden, was ja letztendlich eine Technik des Schreibens ist. Da gibt es Fließtext, da gibt es einzelne Buchstaben, dann Buchstabenketten, und nichts davon sind rein formale Spielereien, alles steht in einem Gesamtzusammenhang, der Raum, das Material, der Prozess und zusammen mit dem Text ist es immer ein Fluss, in den ich hineingerate. Zu Anfang kämpfst du mit dem Papier, weil es sich vielleicht sperrig schneidet, weil das Messer sich so oder so verhält. Und plötzlich merkst du, wie du mit diesem Papier in eine dialogische Situation gerätst. Das Papier gibt dir eine gewisse Struktur vor, das Messer ohnehin, auch die Art der Schrift, die du wählst, bedingt eine bestimmte Form – bei Fließtext habe ich nur Rundungen, bei Versalien-Schrift habe ich viele Geraden und so weiter.

 

Wird die Schrift vorgezeichnet?
Nein, ich schneide eigentlich nie nach vorgegebenen Buchstaben, ich zeichne nichts vor. Ich bin keine Maschine, sondern es ist immer eine eigene Handschrift, die entsteht. Die Buchstaben sind immer anders. Ich scheue mich etwas, es so auszudrücken, aber es ist schon eine meditative Arbeit, erfordert auf jeden Fall extreme Konzentration, jeder Schnitt ist unbedingt, kann nicht rückgängig gemacht werden. Das ist jedes Mal neu und jedes Mal muss ich mit dem Material wieder erst warm werden, bis ich in diesen oft beschriebenen „flow“ komme. Dann komme ich in einen Zustand, den ich so beschreiben würde, dass der Schneidevorgang lustvoll wird.

 

Das ist eine ungewöhnliche Beschreibung.
Ja, aber es ist tatsächlich so, dass ich eine tiefe Befriedigung dabei empfinde, das zu tun, weil in dem Vorgang selbst etwas drin steckt das mich beruhigt, weil es ein permanentes Form-Finden ist, weil es verlangsamt und mich gleichzeitig aber in Erregung versetzt.

 

Texte

Spielt dabei auch der Inhalt dessen, was du schreibst, eine Rolle?
Absolut. Es ist etwas anderes, ob ich mich einem Nietzsche-Text widme, Heidegger oder wie jetzt Hölderlin.

 

Die Verszeile, welche die Verbindung zwischen dem Heidegger-Text und dem Gedicht bildet, ist Hölderlins Satz: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos.“ Hat sich für dich der Satz während der Arbeit gefüllt?
Er ist für mich zum Angelpunkt des Textes geworden, ich habe am Schluss eine ganze Schriftbahn nur diesem Satz gewidmet. Ich habe ihn geradezu wie ein Mantra wiederholt – was am Anfang gar nicht so gedacht war, sondern im Verlauf des Schneidens erst entstand.

 

Du greifst also auch in den Text ein.
Ich verändere ihn auch. Bei diesem Gedicht etwa habe ich den Text nicht einfach fortlaufend schneidend geschrieben, sondern einzelne Passagen oder einzelne Formulierungen auch wiederholt, ich habe sie so verändert, dass sie sich meinem eigenen Fluss des Verstehens anpassen. Für mich ist das auch eine Art der Fortschreibung des Textes, den ich gewählt habe.

 

Was in diesem Fall gut zu der komplexen Entstehungsgeschichte des Gedichtes passt.
Ich habe beide existierende Fassungen des Gedichts geschnitten, aber es gibt ja, das wissen wir inzwischen durch die Hölderlin-Forschung, noch mehr Entwürfe, Hölderlin selbst hat Teile des Gedichts aus anderen Skizzen hineinmontiert, und es gibt keine Fassung, die von Hölderlin selbst als die letztgültige autorisiert wäre. Da wird also in meiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Gedicht, im Prozess dieses Schneidens, seine eigene Entstehung noch einmal auf den Punkt gebracht: Denn eigentlich gibt es gar keine Endfassung, sondern nur eine Entwicklung, die irgendwann in Form einer gedruckten Fassung einmal angehalten wurde.

 

So dass auch deine Fassung jetzt nur eine weitere Fassung des Gedichts wäre.
Bist du seinem Sinn dadurch näher gekommen?
Zu dem Sinn des Gedichts möchte ich mich eigentlich gar nicht äußern. Das können andere viel besser. Ich bin erst einmal Künstlerin, keine Philosophin, in meiner Arbeit will ich nicht in erster Linie etwas wissen, sondern will etwas tun, eine Form finden, sowohl im Prozess als auch im Physischen. Für mich liegt der Anreiz darin, dass der Text selbst wie nach einer Form gesucht hat. Aus diesem Impuls wollte ich etwas machen.

 

Gesprächsführung und textliche Ausarbeitung: Dr. Jens Heisterkamp, Frankfurt am Main.

* Heidegger in „Was heißt Denken?“ GA 39, S. 23