Corinna Krebber – Leerelose Leere
Ausstellung im KunstRaum Bernusstraße, (1. März – 1. April 2017)
Dr. Hanneke Heinemann

 

„Ich bin hier         ,         und es gibt nichts zu sagen“

Mit diesem Satz samt der darin enthaltenen Pausen beginnt John Cage seinen „Vortrag über nichts“[1] . In einem in der Ausstellung gezeigten Leporello kann man diese Worte finden und lesen; die dort entnommenen Pausen sind Bestandteile des Werkes PARTITUR/an Cage, eines der beiden Werke, die sich in der zentralen Installation im großen Raum befinden.

Bei Cage folgt nach dem etwas irritieren Einstieg ein sehr anregender Vortrag u.a. über die Stille, Wörter, Pausen, Gegenwart, Wiederholungen und noch vieles mehr. Durch seine unverkennbare Art und Weise, wie er den Text mit Pausen und Wiederholungen strukturiert, lässt John Cage die Zuhörenden und die Lesenden während seines Vortrags an seiner Arbeitsweise teilhaben. Das macht, wenn nicht ganz so offensichtlich, auch Corinna Krebber in ihren Arbeiten. Die Umgangsweise mit dem Material bleibt bei aller Vergleichbarkeit jedoch unterschiedlich.

Es ist nicht ihre erste Beschäftigung mit John Cage. 2010 entstand eine Druckperformance, die im KunstRaum Bernusstraße ganz vorsichtig durchgeblättert werden kann. Corinna Krebber hatte die Worte und Sätze des Vortrags auf dem Bildschirm geschrieben und dann einzeln auf recht dünnem Papier ausgedruckt, bevor sie die nächsten Worte schrieb und dann wiederum ausdruckte. Noch deutlicher als in der Suhrkamp-Ausgabe bei Cage wird bei Corinna Krebber der Aspekt der Zeit betont. Trotz der vielen Pausen und des ungewohnten Querformates liest bzw. überfliegt man 36 Seiten schneller als 5 Bände. In Corinna Krebbers Projekt finden sich zudem Spuren von Fehlfunktionen des Druckers wie Abrisse oder Schlieren, die die tiefe Aneignung der Gedanken Cages erahnen lassen. Die Künstlerin nimmt den Text quasi als Notenschrift und wird mit dem Instrument Drucker zur Ausführenden. Durch Dehnung und Streckung bringt sie ihre eigenen Interpretationen hinein.

Mit einem passenderen Ansatz kann man wohl kaum John Cage ehren, der ja mit seinem Werk ORGAN²/ASLSP – (ein möglichst langsam auszuführendes Orgelstück) eine größt­mögliche Dehnung der Zeit gewollt hatte. Für dieses Stück sind in Halberstadt übrigens 639 Jahre vorgesehen. Erfreulicherweise bewegt sich Corinna Krebbers Zeitdimension in dem vergleichsweise kleinen Ausschnitt eines Menschenalters.

Seit dieser Performance sind einige Jahre vergangen und die Künstlerin hat viele andere Erfahrungen in sich aufnehmen können. Besonders prägend für die Ausstellung ist ein Projekt in Japan und die in viele Richtungen gehende Beschäftigung mit der Zen-Philosophie und dem Nichts. Sie liest dazu u. a. Hoseki Shinichi Hisamatsus Band über die „Fülle des Nichts“, der nicht nur ihr Denken der letzten Zeit, sondern auch die Konzeption der Ausstellung beeinflusst hat. Wie der Klang nicht ohne Stille zu denken ist, ist Fülle ohne Leere kaum vorstellbar.

Im Rahmen des 3. Bildhauersymposiums 2011 in Bad Salzhausen hatte Corinna Krebber das Wort „NICHTS“ als große Betonbuchstaben in den Kurpark eingelassen. Wie Matthias Weidmann in seinem Katalogtext vermerkt, ist „der Begriff letztlich als Verneinung seines Gegenparts, des Seins, zu begreifen. Er gewinnt durch die nihilistische Haltung des Den­kenden Kraft und Bedeutung, ist als Begriff somit der große starke Bruder seiner kleinen Schwester, der Skepsis“. Das „Nichts“ wird in der japanischen Kultur anders aufgefasst. Es ist nicht so sehr das Auslöschen des Seins, sondern verkürzt gesagt ein erstrebenswerter, immer mit Kreativität gedachter Zustand der Offenheit, der inneren Beweglichkeit und des Loslassens. Um den Kern des Nichts – der leerenlosen Leere – zu verinnerlichen, sind wohl Jahre intensiver Beschäftigung mit Zen-Philosophie und Meditation nötig.

Corinna Krebbers Zugang ist grundsätzlich zwar konzeptionell, aber immer sinnlich. Der Blick auf die an Stecknadeln angeordnete Papierausschitte mit dem Wort „Nichts“ darauf binden den Geist, fordern ihn auf, sich Gedanken über den Begriff zu machen, sich vielleicht noch zu fragen, warum unterschiedliche Typen genutzt werden – die verkürzte Antwort ist: weil es mehrere Kommentare über das „Nichts“ gibt. Die Papierausschnitte von THE UNKNOWN/COLLECTION II stammen aus unterschiedlichen Büchern von Sartre, Hegel, Heidegger, Nishida, Nishitani und anderen Philosophen. Frei nach dem Motto „ich lese also bin ich“ bekommt das Wort eine sehr starke Präsenz, auch wenn naturgemäß die Papierausschnitte recht klein sind. Das „Nichts“ gibt es, wir sehen es ja vor uns und können den Begriff lesen. Aber, kann denn ein „Nichts“, dass man sieht, ja sogar anfassen könnte, wirklich nichts sein? Die Antworten auf diese Frage sind unzählig.

Die später entstandene Arbeit PARTITUR/an Cage, in der Corinna Krebber die Pausen aus John Cages Vortrag verwendet, führen wohl noch tiefer in das Verständnis der Leere hinein. Da wo wir ein Wort erwarten, befindet sich ein kleiner unbeschriebener Schnipsel Papier. Wir sehen die durch das weiße Papier symbolisierte Leere vor unseren Augen – auch wenn es nicht die Leere des Zen-Buddhismus sein kann. Jeder Papierausschnitt ist zunächst einmal die Aufzeichnung eines Zeitabschnittes – nämlich die einer Pause in dem oben schon zitierten Cage-Vortrag über nichts. Wie Corinna Krebber das Konzept der Arbeit – nämlich alle Pausen des Vortrags herauszuschneiden – lediglich als Ausgangspunkt nimmt, sollten wir beim Betrachten uns auch nach unserer eigenen Idee einer Pause befragen. In die fließt zwangsläufig – bewusst oder unbewusst – auch die Haltung John Cages und die der Künstlerin hinein. Wir befinden uns in unserem Reflektieren und Er­spüren also in guter geistiger Gesellschaft.

Der Titel THE UNKNOWN/COLLECTION II verweist auf in Glaskästen aufbewahrte Insektensammlungen, die die Künstlerin in naturwissenschaftlichen Museen begeistert hat. Jedes Insekt wird auf einer Stecknadel vereinzelt, aber in der Anordnung des Kastens wieder in eine Systematik bzw. eine Ordnung gestellt. Corinna Krebber nutzt nun ihrerseits Stecknadeln, um ihre Sammlung von Papierschnitten anzuordnen.

In der deutschen Übersetzung des englischen Wortes „Collection“ als „Sammlung“ erhält der Titel noch eine weitere Bedeutungsschicht, die sowohl auf den Herstellungsprozess als auch auf die Betrachtungsweise verweist: Das Sich-Sammeln, um Form und Botschaft des Werkes aufzunehmen. Eine ruhige, gelassene Stimmung, in der man achtsam in sich hinein fühlt und bedenkt, was die Arbeit im Selbst auslöst, scheint mir der richtige Zugang zu diesen Werken zu sein.

Nach der Sammlung im Glaskasten kommen wir noch einmal zum Buch zurück, das – wie wir gesehen haben – Material bzw. Steinbruch für ihre Werke geworden ist. Aus Büchern schneidet Corinna Krebber Wörter und Leerstellen aus. Obwohl sie Material entnimmt ist dies kein zerstörerischer, sondern ein produktiver Akt. Wir wundern uns darüber nicht, denn in der zeitgenössischen Kunst ist Perforieren oder das Entfernen von Materie seit Jahrzehnten ein geläufiger Vorgang. Und immer nimmt solch ein Tun ein Objekt aus seinem Alltagsdasein heraus, um etwas Besonderes in ihm offenlegen. Bei Corinna Krebber zeugen die Lücken im Text von einer intensiven Lektüre. Corinna Krebber ist eine Leserin. Sie liest nicht nur mit dem Auge wie wir, sondern eignet sich den Text mit dem skalpellartigen Cutter an. Indem sie Wörter ausschneidet, separiert sie sie, um sie dann in eine andere Arbeit überführen zu können. So verbindet sie sich mit den Gedanken und Ideen der großen Geister, die das Buch geschrieben haben. Nicht nur Stecknadelarbeiten entstehen, sondern wahrhafte Skulpturen aus langen sorgsam ge­klebten Papierstreifen, die schwärmende und in sich kreisende Gedanken auf eine sehr lebendige und außerordentlich bildhafte Art darstellen.

Aber auch mit dem Buch selbst passiert etwas. Durch die Entnahme eines Wortes oder eines unbedruckten Papierstreifens lichtet sich das Buch, es wird erleichtert und durch­lässiger und zeigt dabei mitunter fragile Raumgitter wie in den Leporellos auf dem Wand­boards.

Der Gestus, mit dem sie alle Seiten der „Ständigen Begleiter“ entfernt und nur noch den durch Abnutzung und Vereinnahmung durch Schrift gekennzeichneten Buchdeckel ste­hen lässt, ist radikal. Der Inhalt – meist Gebete und Gesänge für die regelmäßige Andacht – ist nun komplett entnommen, eine Leere entsteht, die im ersten Moment vielleicht schockiert. Es gibt zu viele schreckliche Assoziationen, die sich mit zerrissenen Schriften einstellen. Auf den Seiten waren Erinnerungsstützen und Ratgeber für die tägliche spiri­tuelle Beschäftigung. Sie fehlen nun. Die Betrachtung kann sich nun ganz auf die nur wenig vergilbten Innenseiten des Buchdeckels konzentrieren, auf denen Notizen stehen und in denen sich Spuren einer häufigen Nutzung finden können. Auf die linke Seite ist das Wort „leerelose leere“ eingeprägt. So prallen mehrere Kon­zepte zusammen, die sich sowohl fremd sind, als auch viele Gemeinsamkeiten haben. Das Bemühen um die leerelose Leere sollte wie die Nutzung von Gebetbüchern ein ständiger Begleiter werden. Oder ist das Buch als ständiger Begleiter nun nicht mehr notwendig, weil die Leere erreicht ist? – Sich solche Fragen zu stellen ist genauso wichtig wie eine Antwort, die wohl nicht abschließend sein kann.

Corinna Krebber stellt in und mit Ihren Werken nicht nur Schaffens- und Denkprozesse dar, sondern stellt auch immer wieder Beziehungen her, indem sie Positionen und Ideen, die nicht aus demselben Kontext kommen, aber etwas Gemeinsames haben, kommunizieren lässt. Wie beispielsweise in den Ständigen Begleitern, in denen sie christliche Rituale mit einem Kernbegriff der Zen-Philosophie verbindet. Hier geschieht die Ver­bindung in einem Werk, das entweder gerahmt oder in einem eleganten Schuber auf­bewahrt ist. Auch in der Ausstellungsanordnung offenbaren sich immer wieder Bezüge zwischen den einzelnen Arbeiten. Manchmal sind sie vornehmlich rhythmisch wie in diesem Raum, meistens liegt die Betonung jedoch auf gedanklichen Bezügen wie die Gegenüberstellung der Leere und des „Nichts“ in einem eigens geschaffenen Raum zwischen zwei Stellwänden.

Die Ausstellung zeigt auch Arbeiten, die aus der Beschäftigung mit Friedrich Hölderlins Gedicht „Mnemosyne“ entstanden sind, die einen unvergessenen Höhepunkt 2013 mit der Installation „[zustand: in der schwebe]“ in der KunstKulturKirche Allerheiligen hatte. Mitten im Kirchenraum hing der aus weißen Papierbahnen geschnittene Text als Raumskulptur. Dieses Band hing wolkenartig im Kirchenraum. Jeder der die Installation gesehen hat, vielleicht direkt unter ihr stand und in sie hineinblickte, wird noch immer von dem Zauber hingerissen sein. Besonders bei Lichteinfall schien das Gebilde wie von einer anderen Welt. Versuchte man zu Beginn vielleicht noch der Schrift auf dem Band zu folgen, überließ man sich doch bald der Anziehungskraft dieses fragilen, luftigen Gebildes.

Obwohl die Wörterzüge in dieser Ausstellung aus schwarzem Papier geschnitten sind, liegt in ihnen noch viel von der Leichtigkeit der Installation. In manchen Knoten ver­dichten sie sich jedoch zu einer kreisförmigen Gedankenbahn, zu der man von außen kaum Zugang bekommt und die undurchdringlich wie ein Gebüsch erscheint.

Zwischen den verschlungenen Worten bleiben weiße Leerstellen sichtbar. Schließt sich hier der Kreis wieder zum Ausgangspunkt dieser Gedanken oder beginnt nun etwas Neues? Wir sind gespannt und freuen uns auf Corinna Krebbers Arbeiten.

[1] in: John Cage – Silence, Bibiothek Suhrkamp 1995